Der Traum vom idealen Orchesterklang
Die Wiener Philharmoniker unter Andris Nelsons liefern ein leuchtendes Gastspiel in der Berliner Philharmonie – mit Werken von Gubaidulina, Schosta- kowitsch und Dvořák. Und dass dieses berühmteste aller weltweiten Sinfonie- und Opernorchester leuchtet, ist auch nicht selbstverständlich. Man erinnert sich an Vorstellungen an ihrer ersten Gastspielstätte, dem Großen Festspielhaus Salzburg, welche aufgrund eines wenig engagierten Einsatzes einer zwei- ten oder dritten Besetzung getrost als vergeigt bezeichnet werden können. An diesem Sonntag war es allerdings wirklich toll, dass die Wiener Philharmoniker zu Gast waren. Denn sie spielten wirklich gut. Man hatte strecken- weise das Gefühl, dass man aus Platons Höhle auftauchte und das Ideal des Orchesterklangs schlechthin erlebte: Violinen mit diesem gewissen wohligen Schnarren am Anfang des Tons; Klarinettenklang im Lyrischen weich singend, im Allegro geschäftig blubbernd; eine virtuos näselnde Solo-Fagottistin; eine Durchhörbarkeit des Orchestersat- zes noch im wütendsten Fortissimo.
Virtuos wurde Schostakowitschs Neunte Sinfonie gespielt
Am prägnantesten war das alles in Scho- stakowitschs Neunter Sinfonie zu erle- ben. Oft wird die Sinfonie als parodisti- sches Aperçu zur bombastischen Ach- ten kleingeredet. Doch der lettische Dirigent Andris Nelsons nutzte den klassizistischen Grundklang der Wiener, um neben den artistischen auch die lyri- schen Passagen dieses Stückes zu prä- sentieren und den Charakter einer voll- gültigen Sinfonie als Erbe Beethovens herauszustellen.
Interessant ist die Wahl zur Konzerteröffnung: Sofia Gubaidulinas Märchen- poem für Orchester, das zunächst 1971 als Musik zu einer sowjetischen Rund- funksendung für Kinder entstand. Die junge Gubaidulina hat für die epische Art des musikalischen Erzählens im Rundfunk so unglaublich atmosphäri- sche Einfälle, dass es nicht verwundert, welch künstlerischer Respekt der heute 91-Jährigen noch jetzt über alle ästheti- schen Gräben der zeitgenössischen Musik hinweg entgegengebracht wird. Antonín Dvořáks Sechste Sinfonie D- Dur gelingt den Wiener Philharmoni- kern sehr respektabel, aber nicht genau so überzeugend wie Schostakowitsch. Aber vielleicht würde der berühmte Streicherklang und die bezaubernden Bläsersoli auch zu sehr, zu offensiv aus- gestellt, ließe man sie nicht etwas im Nebel des betörenden orchestralen Gesamtklangs.