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Über die Allianz

Seit 2017 sind das Gewandhausorchester Leipzig und das Boston Symphony Orchestra künstlerische Partner, deren weitreichende Zusammenarbeit die Bereiche Spielplangestaltung, Personalentwicklung und Ausbildung umfasst. Im Folgenden zeichnen wir nach, wie diese einzigartige Allianz entstanden ist.

Die Anfänge der Allianz

Unter der Leitung von Andris Nelsons verwirklicht die Allianz zwischen dem Boston Symphony Orchestra (BSO) und dem Gewandhausorchester (GHO) eine wegweisende, mehrdimensionale Kollaboration, deren Zweck darin besteht, beiden Orchestern und ihren jeweiligen Hörern neue Möglichkeiten zu eröffnen, die einzigartigen musikalischen Welten dieser beiden Ensembles zu entdecken und dabei die Traditionen und historischen Leistungen zu würdigen, die dazu beigetragen haben, dass die beiden Klangkörper sich zu den besten Orchestern der Welt zählen dürfen. Darüber hinaus legen die Konzertprogramme der BSO/GHO Allianz einen Fokus auf das gemeinsame musikalische Erbe der beiden Institutionen, während sie gleichzeitig ein Schlaglicht auf die kulturellen Landschaften der Heimatstädte beider Ensembles werfen.

Über einen Zeitraum von fünf Jahren, beginnend in der Spielzeit 2017-18, wird die BSO/GHO Allianz Kompositionsaufträge vergeben, in speziellen Vermittlungsprojekten die Kultur und Geschichte der beiden Orchester in den Mittelpunkt rücken, sowie Auftritte des BSO im Leipziger Gewandhaus und des GHO in der Symphony Hall in Boston organisieren – ein einzigartiges Erlebnis für die Musiker ebenso wie für das Publikum. Im Rahmen der Kollaboration sind außerdem Austauschprogramme für Musiker der beiden Orchester und für den künstlerischen Nachwuchs ihrer renommierten Akademien geplant. Als besonderes Highlight der Zusammenarbeit wird jedes Jahr ein Fokus auf komplementäre Programmgestaltung gelegt, wenn einmal pro Saison das BSO in Boston die “Leipzig-Woche” und das GHO in Leipzig die “Boston-Woche” feiert. Im Rahmen dieser Konzertwochen werden die beiden Orchester die musikalischen Traditionen des jeweils anderen Klangkörpers in “typischen” Konzertprogrammen erkunden, ergänzt von Kammermusik, Vorträgen und Podiumsdiskussionen. Christoph Wolff, der von 2001 bis 2013 Direktor des Leipziger Bach-Archivs war, eine Reihe bedeutender Texte zur Musikgeschichte vom 15. bis zum 20. Jahrhunderte veröffentlicht hat und unter anderem an der Harvard-Universität lehrt, wird als künstlerischer Berater in der BSO/GHO Allianz tätig sein.

Diese neue Allianz zwischen dem Boston Symphony Orchestra und dem Leipziger Gewandhausorchester, die die großen Traditionen und den lebendigen Einfluss dieser Orchester feiert, hebt unser gemeinsames Erbe hervor und stimuliert neue künstlerische Synergien. Sie ist in der Orchesterwelt beispiellos und regt eine neue Dimension kreativer Programmgestaltung für beide Orchester an.

Gemeinsames Erbe

Die Geschichte der engen künstlerischen Verbindung zwischen Leipzig und Boston begann im Jahr 1881, als Orchestergründer Henry Lee Higginson den am Leipziger Konservatorium ausgebildeten Georg Henschel als ersten Dirigenten des Boston Symphony Orchestra engagierte. In der Folge wurden immer wieder Dirigenten berufen, die in Leipzig ausgebildet worden waren oder Stellen im Gewandhausorchester innehatten, darunter Wilhelm Gericke, Emil Pauer, Max Fiedler, Karl Muck und – vielleicht der wichtigste – Arthur Nikisch. Mitte des 20. Jahrhunderts wurde die Verbindung bekräftigt, als Charles Münch im Jahr 1949 Chefdirigent des BSO wurde (bis 1962). Münch hatte ebenfalls in Leipzig studiert und war von 1923 bis 1933 erster Konzertmeister des Gewandhausorchesters.

Darüber hinaus ist der Neubau der Boston Symphony Hall aus dem Jahre 1900 vom Leipziger Gewandhaus inspiriert. Doch die Symphony Hall ist nicht einfach eine Replika des historisch bedeutenden Zweiten Gewandhauses, das seine Türen im Jahr 1884 öffnete und 1944 zerstört wurde. Higginson hatte Leipzig während einer Konzerttournee durch Europa besucht und sein Team von Architekten angewiesen, eine größere Version des Gewandhauses mit bis zu 2600 Sitzplätzen zu entwerfen. Der Neubau in Boston passte die Konstruktion seines Leipziger Gegenstücks zudem den neuesten Erkenntnissen aus der Akustik an und Prinzipien der Raumakustik beeinflussten maßgeblich unter anderem die Größe der Bühne und die Platzierung von schallschluckenden Statuen im Auditorium.

Im Jahr 1974 trat das Gewandhausorchester im Rahmen seiner ersten Tournee durch die Vereinigten Staaten in der Bostoner Symphony Hall auf. Bis heute hat Boston das Gewandhausorchester bei zehn Gastspielen willkommen geheißen, zuletzt bei einem Auftritt in der Konzertsaison 2014-15. Derweil gab das Boston Symphony Orchestra sein Debüt im Gewandhaus im Mai 2016, nachdem das dem BSO angegliederte Boston Youth Symphony Orchestra bereits im Jahr 2008 auf einer Europatournee im Gewandhaus zu Gast war.

Seit seiner Gründung im Jahr 1743 ist die Geschichte des Gewandhausorchesters eng verknüpft mit einigen der größten Namen der Musikgeschichte, darunter Johann Sebastian Bach, der von 1723 bis zu seinem Tod im Jahr 1750 in Leipzig lebte und arbeitete. Seither ist das Gewandhausorchester ein “Uraufführungsorchester aus Tradition”, das unter anderem Werke von Beethoven, Schumann, Mendelssohn und Brahms zur Uraufführung brachte. Diese Tradition setzt sich bis ins 20. und 21. Jahrhundert mit Werken von herausragenden Komponisten wie Henze, Kancheli und Rihm fort. Das kompositorische Erbe des BSO ist ebenso einzigartig und beinhaltet Uraufführungen einiger der bedeutendsten Werke des letzten Jahrhunderts von Komponisten wie Strawinski, Prokofjew und Bartók über Messiaen und Dutilleux bis hin zu einer Vielzahl amerikanischer Komponisten wie Copland, Bernstein, Sessions, Carter und Harbison.

Eine einzigartige Allianz

Mit renommierte Orchestern verhält es sich ähnlich wie mit den höchsten Gipfeln einer Bergkette: Sie überragen die musikalische Landschaft als unverrückbare Verbindungen in die Vergangenheit, während sie gleichzeitig in ungekannte Höhen streben. Viele Jahre haben sie in wunderbarer Isolation gestanden, ein Austausch zwischen den Gipfeln hat kaum stattgefunden. Zumindest bis das Boston Symphony Orchestra (BSO) und das Gewandhausorchester Leipzig sich entschieden haben, gemeinsam Berge zu versetzen.

Eine solche Partnerschaft ist einzigartig in der Welt der klassischen Musik: Eine weitreichende Zusammenarbeit auf der künstlerischen und organisatorischen Ebene zwischen zwei Institutionen mit einer vergleichbaren Strahlkraft hat nie zuvor stattgefunden. Auf den ersten Blick scheinen die beiden Orchester sich sehr unähnlich zu sein: Das Gewandhausorchester steht in der Tradition des klassischen und romantischen Repertoires, während das Boston Symphony Orchestra fest im 20. Jahrhundert verwurzelt und stark von den Kompositionstraditionen Frankreichs und Deutschlands beeinflusst ist.

Ich bin unglaublich dankbar, dass meine Kollegen im Gewandhausorchester und im Boston Symphony Orchestra gemeinsam mit mir diese absolut einzigartige Partnerschaft eingehen möchten.

Andris Nelsons

Trotz dieser Unterschiede blicken die beiden Institutionen auf eine lange gemeinsame Geschichte zurück. Als Henry Lee Higginson das BSO im Jahr 1881 gründete engagierte er den in Leipzig ausgebildeten Georg Henschel als Dirigenten, den ersten in einer Reihe von Musikdirektoren, die ihr Handwerk an der Leipziger Musikakademie gelernt oder Stellen im Gewandhausorchester innegehabt hatten. Emil Paur, Max Fiedler und Karl Muck brachten allesamt ihre Erfahrung aus Leipzig mit nach Boston. Arthur Nikisch leitete das BSO von 1889 bis 1893 bevor er Dirigent am Gewandhaus wurde und Charles Münch war zunächst in den 1920er Jahren Gewandhauskapellmeister, bevor er 1949 die Leitung des BSO übernahm.

Beide Orchester blicken zudem auf eine glänzende Geschichte von Weltpremieren zurück. Werke von Schubert, Mendelssohn und Brahms erlebten ebenso ihre Uraufführung durch das Gewandhausorchester wie Kompositionen von Schnittke und Rihm, während Premieren von Prokofjew, Gershwin, Strawinski und Bartók in Boston und Tanglewood vom BSO gegeben wurden. Die engen Verbindungen zwischen Boston und dem Gewandhaus nahmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gestalt an, als die Bostoner Symphony Hall, erbaut im Jahr 1900, nach dem Vorbild des später im Krieg zerstörten Zweiten Gewandhauses in Leipzig entworfen wurde.

Andris Nelsons kannte diese gemeinsame Geschichte als er im Jahr 2018 zustimmte, Gewandhauskapellmeister in Leipzig zu werden, genau vier Jahre nachdem er das Pult in Boston übernommen hatte. Die außergewöhnliche, wenn auch einleuchtende Idee, beide Orchester zusammenzubringen, entwickelte sich schnell zu einem persönlichen Herzensprojekt des lettischen Dirigenten und wurde auf beiden Seiten des Atlantiks mit Begeisterung aufgenommen. “Diese einzigartige Partnerschaft hat großes Potenzial und bietet eine leistungsstarke Perspektive in der Welt der klassischen Musik”, sagt Nelsons stolz.

Berühmte Orchester sind ähnlich wie die höchsten Gipfel einer Bergkette. Sie überragen die musikalische Landschaft als unverrückbare Verbindungen in die Vergangenheit.

Andris Nelsons

Im Einklang mit ihrer Tradition von Weltpremieren werden beide Orchester auch weiterhin Musikgeschichte schreiben. Im Rahmen der Allianz werden gemeinsame Kompositionsaufträge in Europa und den USA vergeben, unter anderem an Sean Shephard, Jörg Widmann und Andris Dzenītis. Diese Reihe von der Kritik hochgelobter Kompositionen wird im Mai 2019 mit einem neuen Werk von Sebastian Currier fortgesetzt, während neue Kompositionsaufträge an Betsy Jolas, HK Gruber und Sofia Gubaidulina bereits bestätigt sind.

Ein besonderes Highlight ist für Oktober und November 2019 geplant: Während einer einwöchigen Residenz des Gewandhausorchesters in Boston werden die beiden Orchester zum ersten Mal gemeinsam auftreten, in einer Besetzung, die zur einen Hälfte aus Bostonern und zur anderen Hälfte aus Leipzigern besteht. Auch darüber hinaus ist der direkte Austausch zwischen den Musikern der beiden Orchester der wichtigste Aspekt des Projekts. In jeder Saison erhalten zwei Musiker die Chance, im Partnerorchester zu spielen und auch in der Nachwuchsarbeit reichen sich die beiden Orchester die Hand, sodass die Kooperation der beiden Klangkörper auch für die Talente des Tanglewood Music Center und der Mendelssohn-Orchesterakademie neue Möglichkeiten zu internationalem Austausch und künstlerischem Wachstum eröffnet.

Berge versetzt man am besten im Team. Das sind natürlich zuallererst Andris Nelsons und die Mitglieder der beiden Orchester, aber auch die Management-Teams der beiden Klangkörper, die nach den Worten von Gewandhausdirektor Andreas Schulz von Beginn an mit größter Leidenschaft und Hingabe an dem Projekt gearbeitet haben. Es bestehe “eine enge Verbindung” zwischen den beiden Städten, so Schulz: “Der Austausch zur künstlerischen Planung, der oft persönlich stattfindet, ist lebhaft und inspirierend.” Mark Volpe, Managing Director des BSO, unterstreicht, dass die Allianz “die großen Traditionen und den lebendigen Einfluss dieser Orchester feiert, unser gemeinsames Erbe hervorhebt und neue künstlerische Synergien stimuliert” und betont, dass “unter Andris Nelsons Leitung die BSO/GHO Kooperation viele Möglichkeiten für einen wichtigen musikalischen und kulturellen Austausch schaffen wird, der die außergewöhnlichen musikalischen Gaben des Boston Symphony Orchestra und des Gewandhausorchesters einem größeren weltweiten Publikum nahe bringt.” Die Allianz steckt noch in den Kinderschuhen und die Zukunft wird viele große Projekte und erfreuliche Neuigkeiten zur Zusammenarbeit der beiden Orchester bringen. Visionäre Pläne zu schmieden erfordert Weitsicht – und wo wäre diese besser zu finden als auf dem Gipfel zweier Berge, zwischen denen in kurzer Zeit eine tragfähige Verbindung entstanden ist.

Text: Judith Jung